
Ich beschäftige mich gerade wieder mit Strukturen und Modellen, wie man Geschichten emotional erzählen kann. Schon meine Diplomarbeit habe ich ja zum Thema Drehbuch-Dramaturgie geschrieben; die Filmdramaturgie hat mich mein gesamtes Studium und die ersten Berufsjahre begleitet. Was habe ich nicht schon mit Drehbuchautoren und Produzenten aus Europa und Übersee über Pro und Contra Erzählmodelle debattiert, bei den éQuinoxe Workshops oft bis spät in die Nacht hinein und begleitet von Leidenschaft und vielen Flaschen Bordeaux. Von europäischen Independent-Autoren wird die Heldenreise ja oft spöttisch als „Hollywood-Schema“ abgetan. Dabei ist sie viel mehr (und viel weniger). Nämlich das:
Die Heldenreise: die große menschliche Ur-Erzählung
Die „Heldenreise“ ist ein narratives Modell, das auf dem Werk „Der Heros in 1000 Gestalten“ des Mythenforschers Joseph Campbell basiert. Campbell sammelte in jahrzehntelanger Arbeit die wichtigsten Mythen aller menschlichen Kulturen weltweit und kam zu dem Ergebnis, dass sich die Mythen auf der ganzen Welt in Struktur und Aufbau ähneln. Campbells bahnbrechende Entdeckung: Es gibt eine große menschliche Ur-Erzählung, die von Menschen aller Kulturkreise verstanden wird. Später, nämlich in den 1980er Jahren, griff der amerikanische Filmdramaturg Christopher Vogler Campbells Ansatz auf und übertrug Campbells Ergebnisse auf die Filmerzählung. Er verknüpfte Campbells Ansatz zusätzlich mit der Lehre der C.G. Jung’schen Archetypen. Letzteres ist besonders spannend, da die Jung’schen Archetypen Manifestationen des kollektiven Unterbewussten sind und somit transhistorisch und transkulturell verständlich sind.
Die „Heldenreise“ nach Vogler: Kein starres strukturelles Schema
Vogler entwickelte aus Campbells Ansatz das Modell der so genannten „Heldenreise“, deren Elemente und Ablauf tatsächlich in fast jedem Hollywood-Film erkennbar sind (und auch in vielen Romanen und Erzählungen aus allen Kulturkreisen). Vogler selbst betont, dass seine „Heldenreise“ kein starres Schema sei, in das man den Aufbau eines Filmes oder einer Erzählung hineinpressen muss. Die Heldenreise beschreibt eher die psychologische Entwicklung der Hauptfigur. Somit ist die „Heldenreise“ aus der Sicht ihres „Entdeckers“ ein figurenorientierter Ansatz, der besonders die Entwicklung der Persönlichkeit der Hauptfigur in den Blick nimmt. Voglers „Heldenreise“ ist jedoch ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung von Drehbuchautoren, da sich anhand dieser Struktur emotional und strukturell überzeugende Filmerzählungen konstruieren lassen.
Vogler geht sogar so weit zu sagen, dass ausschließlich Filme und Erzählungen, die nach dem Muster der Heldenreise konzipiert sind, ihre Zuschauer wirklich auf ganzer Linie emotional erreichen.
Kreativer Umgang mit dem narrativen Modell der Heldenreise
Wichtig wäre noch zu sagen, dass eine Geschichte oder ein Film nicht in der Reihenfolge der chronologischen Abfolge der Heldenreise erzählt werden muss. Es ist möglich, etwa erst das Ende, dann Teile der Mitte und dann den Anfang zu erzählen (Beispiel: Pulp Fiction, geradezu ein Paradebeispiel für die „Heldenreise“, wenn man sich analytisch mit dem Film befasst). Auch können die einzelnen Elemente länger oder kürzer, ausführlicher oder knapper erzählt werden. Der individuelle Umgang mit dem psychologischen Ablaufschema bestimmt die strukturelle Eigenheit eines Films. Stilprägend für einen Film wirken außerdem gestalterische Elemente wie Tempo, Bildaufbau, Kamera-Einstellungen, Schnitt, Musik, Dialoggestaltung usw., die unabhängig vom Schema der Heldenreise eingesetzt werden können.
So engt das narrative Modell den Erzähler in keiner Weise ein.
Grundstruktur aller menschlichen Mythen/Erzählungen (nach J. Campbell – C. Vogler hat das Schema dann für Filme adaptiert):
1. Der Ruf des Abenteuers (Berufung): Erfahrung eines Mangels oder plötzliches Erscheinen einer Aufgabe
2. Weigerung: Der Held zögert, dem Ruf zu folgen, beispielsweise, weil es gilt, Sicherheiten aufzugeben.
3. Übernatürliche Hilfe: Der Held trifft unerwartet auf einen oder mehrere Mentoren.
4. Das Überschreiten der ersten Schwelle: Der Held überwindet sein Zögern und macht sich auf die Reise.
5. Der Bauch des Walfischs: Die Probleme, die dem Helden gegenübertreten, drohen ihn zu überwältigen — zum ersten Mal wird ihm das volle Ausmaß der Aufgabe bewusst.
6. Der Weg der Prüfungen: Auftreten von Problemen, die als Prüfungen interpretiert werden können (Auseinandersetzungen, die sich als Kämpfe gegen die eigenen inneren Widerstände und Illusionen erweisen können)
7. Die Begegnung mit der Göttin: dem Helden (oder der Heldin) wird die gegengeschlechtliche Macht offenbar.
8. Die Frau als Versucherin: die Alternative zum Weg des Helden kann sich auch als vermeintlich sehr angenehme Zeit an der Seite einer (verführerischen) Frau offenbaren (z.B. Odysseus/Kirke)
9. Versöhnung mit dem Vater: die Erkenntnis steht dem Helden bevor, dass er Teil einer genealogischen Kette ist. Er trägt das Erbe seiner Vorfahren in sich, bzw. sein Gegner ist in Wahrheit er selbst.
10. Apotheose: In der Verwirklichung der Reise des Helden wird ihm offenbar, dass er göttliches Potenzial in sich trägt (in Märchen oft symbolisiert durch die Erkenntnis, dass er königliches Blut in sich trägt).
11. Die endgültige Segnung: Empfang oder Raub eines Elixiers oder Schatzes, der die Welt des Alltags, aus der der Held aufgebrochen ist, retten könnte. Dieser Schatz kann auch aus einer inneren Erfahrung bestehen, die durch einen äußerlichen Gegenstand symbolisiert wird.
12. Verweigerung der Rückkehr: Der Held zögert in die Welt des Alltags zurückzukehren.
13. Die magische Flucht: Der Held wird durch innere Beweggründe oder äußeren Zwang zur Rückkehr bewegt, die sich in einem magischen Flug oder durch Flucht vor negativen Kräften vollzieht.
14. Rettung von außen: Eine Tat oder ein Gedanke des Helden auf dem Hinweg wird nun zu seiner Rettung auf dem Rückweg. Oftmals handelt es sich um eine empathische Tat einem vermeintlich „niederen Wesen“ gegenüber, die sich nun auszahlt.
15. Rückkehr über die Schwelle: Der Held überschreitet die Schwelle zur Alltagswelt, aus der er ursprünglich aufgebrochen war. Er trifft auf Unglauben oder Unverständnis, und muss das auf der Heldenreise Gefundene oder Errungene in das Alltagsleben integrieren. (Im Märchen: Das Gold, das plötzlich zur Asche wird)
16. Herr der zwei Welten: Der Held vereint Alltagsleben mit seinem neugefundenen Wissen und damit die Welt seines Inneren mit den äußeren Anforderungen.
17. Freiheit zum Leben: Das Elixier des Helden hat die „normale Welt“ verändert; indem er sie an seinen Erfahrungen teilhaben lässt, hat er sie zu einer neuen Freiheit des Lebens geführt.
Voglers Heldenreise besteht aus 12 Schritten und konzentriert sich auf die Entwicklung des Helden in einem typischen Handlungsablauf. Archetypische Figuren, die den Helden auf seiner Reise begleiten, beschreibt Vogler unabhängig vom plot-orientierten Ablaufschema der Heldenreise.
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